Der erste Workshops zur Leitbildentwicklung, „Tradition und Innovation“ (20.11.2013) kündigt eine Reihe von Fragen an, die ich als Dauerbrenner der Debatten On- und Off-Campus wiedererkenne. Und nicht nur an unserer Hochschule, nein, sondern überall in unserer Gesellschaft. Es ist dieselbe Frage, die uns bei jedem Umzug begleitet: wie viel von dem alten Gepäck nehmen wir in die neue Wohnung mit?
Die Lektüre, die mir in den letzten Wochen die S-Bahn Fahrt versüßt hat, passt zu dieser Frage: es handelt sich um „Die Schicksalsreise“ von Alfred Döblin, geschrieben 1948. Das Buch beschreibt Döblins Flucht aus Paris im Jahre 1940, die ihn und seine Familie über Spanien und Portugal in die USA führt, von wo sie nach Kriegsende wieder nach Deutschland zurückkehren. Immer wieder hadert der Autor, einer der großen Zauberer der deutschen Sprache, mit dem Grund, warum er seine Geschichte, die „kein bloßer Bericht von mehr oder weniger belangvollen Ereignissen“ ist, überhaupt erzählt. Er tut es nicht „wegen ihres besonderen, historischen Charakters, sondern um das Auffällige, Eigentümliche, Unheimliche dieses Zeitabschnitts festzuhalten.“
Der Schriftsteller schreibt auf, was er erlebt hat. Aber weil er ahnt, dass im Tumult des Krieges und der Vertreibung etwas ganz besonderes mit ihm vorgeht, lässt er sich nicht einfach von Ereignis zu Ereignis treiben, sondern er hält immer wieder inne und spürt in sich hinein. An einer Stelle beschreibt er, wie er der geworden ist, der er ist:
„Ich bin eigentlich nur wie eine Pflanze gewachsen, habe meine Nahrung von da und dort geholt und bin so geblieben. Was mich trieb, dieses und jenes zu wollen, habe ich nie ernsthaft geprüft. Ich wurde getrieben, und ich nahm ohne weiteres an: das bin ich, der treibt. Ich habe mich nie mit dem befasst, was sich als mein »Ich« ausgab und was da wollte und ablehnte. Ich tat es bewusst nicht. Sokrates lehrte: Erkenne dich selbst! Aber wie soll man sich selbst erkennen, wenn man zu gleicher Zeit das ist, was erkennt, und das, was erkannt werden soll.“
Warum berichte ich gerade von diesem Buch? Nicht bloß, weil ich es gerade gelesen habe. Die Themen Krieg und Vertreibung haben für jedes Zeitalter Präsenz und Signifikanz, auch ohne Nazi-Diktatur und Weltenbrand. Zwischen dem Alten und dem Neuen, zwischen den Alten und den Jungen, herrscht immer eine Form von Kriegszustand. Der Konflikt zwischen Tradition und Innovation, zwischen Bewahrung und Erneuerung lässt sich nicht vollständig auflösen. Allerhöchstens lässt sich ein Gleichgewicht suchen – vielleicht als Analogie zu einem Waffenstillstand? — denn einen Sieger darf es nicht geben in diesem Krieg, sonst würden die Alten oder die Jungen, die Konservativen oder die Progressiven, die Bewahrer oder die Erneuerer, jeweils verschwinden müssen: sie werden aber beide gebraucht, damit das große Rad des Fortschritts sich weiter dreht: nicht zu rasch, aber auch nicht zu langsam.
Die Einsicht des weisen, 1948 schon siebzigjährigen Schriftstellers Döblin lautet: „Was jetzt in meinem Rücken, auch unter meinen Füßen liegt, will ich, muss ich nun sehen. Gerichtstag? Nein. Nicht ich bin es, der Gericht halten kann, am wenigsten über sich, – nur hinblicken, überblicken.“ Was könnte das für uns heißen?
Ich muss gestehen, dass ich mich von den in diesem ersten Workshop „Tradition und Innovation“ erarbeiteten 21 Thesen etwas erschlagen fühlte – obwohl wir von Luthers 95 Thesen (Gott sei Dank) noch weit entfernt sind. In Erinnerung bleiben wird mir die Zusammenfassung der Ergebnisse, in welcher der Prozess durch Text und Bild veranschaulicht und nahe gebracht wird – das Bild „Auflockerungsübung“ verursachte ein Lächeln: locker werden, locker bleiben ist gut. Im Vergleich dazu wirken die Thesen auf dem Blog ein wenig wie Vorläufer gerichtlicher Verfügungen. Die kurzen Diskussionen, die man in den Kommentaren zu ihnen lesen kann, scheinen das zu bestätigen: schön wäre es, wenn hier eine lebendige Debatte entstehen könnte (beteilligen Sie sich!). Vielleicht, könnte man sagen, ein Artefakt des Blogging. Vielleicht geht aber auch beim „Thesen-Machen“ zu viel von der Energie und der Spontaneität des kreativen Augenblicks verloren. Ob die Hochschule einen kontinuierlichen Prozess braucht, der Veränderung begleitet und reflektiert?
Döblin nimmt fast nichts auf seine Reise mit, und was er mitnimmt, verändert sich, genauso wie er sich verändert hat, als er nach langen Umwegen wieder an seinen Ausgangspunkt, die (zerstörte) Stadt Berlin zurückgekehrt. Diese Wiederbegegnung wird ihm zum Anlass für die Einsicht: „Ein Mensch hat es leichter als eine Stadt, sich zu ändern. Ein Mensch kann sich wandeln. Eine Stadt stürzt ein.“ Ist die Hochschule eher wie ein Mensch, oder eher wie eine Stadt? Kann sie sich wandeln? Gewiss, sie hat es ja bereits getan ohne einzustürzen.
Mag das Gleichnis auch wackeln – wie weit man auch immer die Reise der Hochschule als Döblinsche „Schicksalsreise“ deuten mag – Parallelen drängen sich mir auf. Es sind dies die alten Konflikte, die (Hochschul-)Entwicklung zu allen Zeiten begleitet haben. Der Kampf zwischen Tradition und Innovation, zwischen Bewahrung und Erneuerung lässt sich nicht vollständig auflösen. Döblins teuer errungener Rat ist im Lichte des Leitungsbild-Prozesses bedeutungsvoll: was in unserem (historischen) Rücken liegt, wollen, müssen wir sehen, wenn wir nach vorne wollen. Sehen heisst nicht richten, sondern nur hinblicken, überblicken.
Nächste Woche ist „Wissenschaft und Praxis“ dran; mal sehen, was mir dazu einfällt. Alles ist mit allem verbunden, deshalb bin ich da ganz zuversichtlich.
Frage an die Leser: Wie halten Sie es selbst mit dem Konflikt von „Tradition und Innovation“ — Problem oder nicht? Vielleicht haben Sie ein Beispiel, das Sie hier mitteilen möchten?
Marcus Birkenkrahe bloggt in den sechs Wochen vor dem Workshop “Innen und Außen” zum Leitbild-Entwicklungsprozess. Er bloggt außerdem mit über 70 anderen Autoren auf elerner.de, dem E-Learning Blog der HWR Berlin.