2. Ein Kind wächst nicht einfach in die Welt hinaus und lässt das Innen hinter sich, sondern hat plötzlich, als Teenager, ein Bein drinnen und ein Bein draußen, und das ist verwirrend und verstörend. Früher sah man das Äußere noch als das Feine und Höhere, und war von der Entrückung entzückt; das Innere hingegen als grob, staubig und bedrückend. Goethe, dessen Zitate den Eintrag im Grimmschen Wörterbuch für das „Innere“ spicken wie Moosbeeren einen saftigen Rehbraten, lässt denn auch Faust sagen:
»Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,
Die eine will sich von der andern trennen;
Die eine hält, in derber Liebeslust,
Sich an die Welt mit klammernden Organen;
Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust
Zu den Gefilden hoher Ahnen.«
3. Erwachsen zu werden heißt auch, sich des eigenen Ichs bewusst werden, der eigenen Grenzen, die am augenfälligsten durch den eigenen Körper gesetzt werden. Die Innenseite ist privat, die Außenseite öffentlich. Innen herrscht absolute Freiheit, oder jedenfalls bilden wir uns das ein: „Die Gedanken sind frei“ singt der Volksmund seit mehr als 200 Jahren, und heute wissen schon die Kinder: „Mein Körper gehört mir.“ Außen schränken Regeln, Gesetze, Normen, Absprachen usw. die Freiheit unangenehm ein (es sei denn, man ist der Freiheit der anderen ausgeliefert, dann kann man sie auch als Schutz empfinden).
4. Unser Zeitalter hat ein neues Mantra erschaffen: „Sei einfach so, wie du bist,“ will sagen: authentisch ohne Einschränkung, so dass dein Äußeres dein Inneres in seiner Ganzheit widerspiegelt. Für ältere Ohren klingt das absurd, unerhört, ohne Sinn und Verstand, und ziemlich infantil im Sinne einer mangelnden Unterscheidungsfähigkeit von Innen und Außen. Aber ich hatte schon 1978 in der Schule einen Lehrer (geb. 1918), der uns „Contenance“ predigte, also Selbstbeherrschung. Wir fanden ihn drollig, seine Empfehlungen skurril, den Zeitgeist hingegen unwiderstehlich: wir wollten uns nicht beherrschen!
5. Beim Führungskräfte-Coaching ist es nicht selten, dass eine beauftragende Organisation andeutet, dass bei einer Führungskraft „Selbstbild und Fremdbild“ nicht übereinstimmen – dass der Manager sich also nicht so sieht, wie er von außen gesehen wird. Hier ist oft etwas anderes gemeint: nämlich die Vermutung, dass der Führungskraft das Urteilsvermögen für die Unterscheidung von innen und außen verloren gegangen ist. Der Auftrag ist im Grunde eine Bestärkung der Wichtigkeit, die Grenze von Innen und Außen zu kennen und sich entsprechend zu verhalten.
6. In Wahrheit leben wir natürlich alle ein inneres und ein äußeres Leben, manchmal sogar mehrere. Zuhause trage ich doch auch Schlabberhosen, aber wenn ich auf die Straße oder zur Arbeit gehe, ziehe ich mir „was Ordentliches“ an: in der Außenwelt will ich einen bestimmten Eindruck hinterlassen, in der Wohnung, bei der Familie, ist mir das egal. Familienmitglieder sind keine Zuschauer, und das Wohnzimmer ist kein Performance Space. Wer sich um diese Grenze nicht schert, gilt als Blumenkind, einer kindlich-verspielten Menschengruppe, die nicht weniger wert, aber die von anderen Werten beseelt ist — eben z.B. Sich-selbst-sein um jeden Preis.
7. Studierende, die in meinen Kursen die Projekte realer Klienten bearbeiten, müssen immer erst lernen nicht immer und automatisch „sie selbst“ sein zu dürfen, sondern sich primär wie professionelle Dienstleister zu verhalten. D.h. einen Rahmen zu schaffen, indem sie dann so weit „sie selbst“ sein können, wie es der Kundenauftrag zulässt. Wie alle menschlichen Beziehungen funktioniert das natürlich in beiden Richtungen: d.h. die Dienstleistung verändert auch den Kunden, nicht bloß den Dienstleister.
8. Das (zu schaffende) Leitbild der HWR Berlin lässt sich als Brücke zwischen Außen und Innen verstehen – anstatt beispielsweise als Ausdruck des inneren Zustandes der Hochschule für ein größeres Publikum, oder als von außen aufgezwungene Identität, an die sich in der Hochschule dann alle halten müssen. Das Leitbild, um eine andere, vielleicht zeitgemäßere Metapher zu bemühen, ist sowohl Sender als auch Empfänger: die Botschaft des Leitbildes ist ein Rahmen, der erst ausgefüllt werden will. Diesen Rahmen zu leben verändert Menschen und Strukturen sowohl innerhalb, als auch außerhalb der Hochschule.
9. Eine Studie des Stifterverbands (zitiert in der ZEIT vom 27.8.10), in der die Leitbilder einer großen Zahl deutscher Universitäten und Fachhochschulen untersucht wurden, befand „Leitbilder der Unis sind austauschbar“. Konkret mangelt es den Leitbildern an pädagogischen Leit-Ideen, einem Bekenntnis zu Dienstleistungen für Studierende, und an Angeboten, die sich am Bedarf der Gesellschaft orientieren. Die Studie stellte die berechtigte Frage, wie Lehrinstitute, die bereits auf ihrer Flagge vermeiden, sich gesellschaftlichen Herausforderungen zu stellen, in ihrer Gesellschaft eine nicht nur verschwindende Rolle spielen wollen. Oder wie sie sich voneinander unterscheiden möchten – das kam nämlich nicht wirklich zum Vorschein: die Förderung von wissenschaftlichem Nachwuchs, die Zusammenarbeit mit außeruniversitären Partnern und die Stärkung internationaler Kooperationen hingegen fanden sich überall. Eine Brücke, die bloß auf diesen drei Pfeilern steht, wird wenig tragen und wenig verbindend wirken.*
10. Das nebenstehende Diagramm hat zwei Achsen – die vertikale geht von „klein“ nach „groß“, die horizontale geht von „ganz innen“ nach „ganz außen“: ein Baby (unten links) ist noch ganz klein und noch ganz innen. Eine Behörde (oben links) ist zwar groß, aber (so das Vorurteil) nur auf sich gerichtet: alle Aufmerksamkeit geht nach innen. Der „Bully“ (Engl. für „Raufbold“, unten rechts) steht beispielhaft für einen infantilen Erwachsenen, der eher außen als innen agiert. Große Organisationen definieren sich stark über ihre Außenwirkung mithilfe eines „Brand“, einer Marke (oben rechts). Natürlich nicht beschränkt auf Organisationen, man denke an Stefan Raab oder die Show GNTM. Alle vier Quadranten sind immer präsent und müssen immer berücksichtigt werden; die Extreme klein/groß und innen/außen bleiben immer relevant.
Die Grenze von Innen/Außen, die beim Kinde so verschwommen ist, wie ich oben sagte, wird beim reifen Erwachsenen, ob Individuum oder Institution, wieder durchlässig und relevant: „Team commitment to the customer“, die praktische, tätige Unterstützung der Kunden durch das Team und die innere Geschlossenheit der Belegschaft im Innern der Organisation, gilt als einer der Hauptbestandteile edler Marken.
Wie geht’s jetzt weiter? Ganz einfach: am Mittwoch dieser Woche kommen wir noch einmal zu einem letzten Leitbild-Workshop zusammen. Dort soll nicht bloß die Schnittstelle innen/außen reflektiert werden. Der Workshop soll vor dem Hintergrund der bisher beleuchteten Themen bereits zwei oder drei konkrete Leitbildentwürfe erarbeiten, aus denen bis zur Podiumsveranstaltung am 3. Juni ein finaler Entwurf geschmiedet werden wird.
Das kontinuierliche Bloggen zu einem hochschulstrategischen Prozess war für mich interessant und inspirierend. Es war auch anstrengend – trotzdem, vor allem wegen der Diskussionen im Anschluss. Diese fanden nicht so sehr im Netz (warum nicht?), sondern in privaten oder halböffentlichen Zusammentreffen statt: die Hochschule ist den öffentlichen digitalen Diskurs (noch) nicht gewöhnt. Wenn sie weiter wächst und sich entwickelt, kommt sie, auch wegen der digitalen Bedarfe ihrer Zielgruppe, der Studenten, um einen solchen digital geführten Diskurs nicht herum.
Abschlussfrage an Sie: was möchten Sie uns noch für den letzten Workshop in dieser Woche mitgeben?
Marcus Birkenkrahe bloggt in den sechs Wochen vor dem Workshop “Innen und Außen” zum Leitbild-Entwicklungsprozess. Er bloggt außerdem mit über 70 anderen Autoren auf elerner.de, dem E-Learning Blog der HWR Berlin.
Hallo Marcus, besonders das Einstiegsbild beschreibt wunderbar, wie sehr die Grenzen des Innen und Außen liegen oder eben doch in einem Bild zusammengehören!
Ich denke, es ist wichtig, in verschiedene Rollen schlüpfen zu können und sich quasi je nach Audienz professionell nach außen darzustellen – das Innere steckt ja aber immer darin, egal in welche Kleider man sich hüllt. In dem Buch „Das gesprochene Wort“, das mir Birgit Felden als Dankeschön für einen Vortrag geschenkt hat, beschreibt der Autor Peter Sprong (viele nette Details auch im blog), das erst durch das Bewusstsein und die Authentizität des Inneren ein befreites Reden nach Außen möglich ist – und dann in jedweder Rolle.
Für den gleich startenden Workshop wünsche ich mir und der HWR Berlin, dass die TeilnehmerInnen des Workshops nach INNEN ein gemeinsames Bewusstsein über das, was die HWR Berlin ausmacht zu schaffen und ein einheitliches Bild wie in o.g. Beispiel kreiert, mit dem sich alle identifizieren können. Somit hoffe ich, dass alle zwar heute mit einem Bild herausgehen, aber jeder dies durch seine (oder ihre) eigene Brille betrachetet und angereichert mit der eigenen Interpretation mit Überzeugung nach AUSSEN trägt.