Management 4.0: Du kannst mehr, als Du denkst!

9 Mai, 2017

ein Gastbeitrag von Hans-Erich Müller   Keine Revolution ohne Übertreibung. Die digitale Transformation macht da keine Ausnahme. Agile Managementmethoden, die in der Welt der Internet-Startups entwickelt wurden, sind angesagt – auch bei etablierten, bisher planungsdominierten Organisationen. Intuition und einfach Machen feiern ein Comeback. Selbstführung soll die Bürokratie ablösen. Aber kann auf rationale Planung und hierarchische […]

Abb. 1 Jetzt kommt Bewegung in die klassische Strategiefindung. Umfallende Schachfiguren. (Quelle: Pixabay; Lizenz: CC0 Public Domain)

ein Gastbeitrag von Hans-Erich Müller

 

Keine Revolution ohne Übertreibung. Die digitale Transformation macht da keine Ausnahme. Agile Managementmethoden, die in der Welt der Internet-Startups entwickelt wurden, sind angesagt – auch bei etablierten, bisher planungsdominierten Organisationen. Intuition und einfach Machen feiern ein Comeback. Selbstführung soll die Bürokratie ablösen. Aber kann auf rationale Planung und hierarchische Führung wirklich verzichtet werden? „Es kommt darauf an!“, ist die naheliegende, aber nicht hinreichende Antwort. Die Betriebswirtschaftslehre selbst steht auf dem Prüfstand.

Die Dominanz der rationalen Entscheidungslehre, des Denkens in Modellen und Instrumentenkästen, haben Henry Mintzberg und Frances Westley bereits Anfang 2001 aufs Korn genommen: „Sometimes decisions defy purely step-by-step logic. To be effective, companies also should embrace intuitive or action-oriented forms of decision making.” Management ist eine Praxis, die im Kontext entwickelt wird:

  • „Thinking First“, die Anwendung der Wissenschaft zur Analyse und systematischen Beweisführung ist dabei nur eine Perspektive, neben
  • „Seeing First“, durch Intuition und Weitsicht, und
  • „Doing First“, etwas machen, damit man lernen kann. Eine formalisierte strategische Planung beispielsweise kann dabei abschreckend sein.

Empfohlen wird, diese drei Perspektiven je nach Kontext zu kombinieren. „Thinking First“ funktioniert am besten für einen etablierten Produktionsprozess, „Seeing First“ für die Entwicklung neuer Produkte und „Doing First“ bei disruptiven Technologien.

Auf dieser Grundlage ist der aktuelle Hype um agile Managementmethoden erklärbar. Beim Lean Startup, Design Thinking und Scrum steht die experimentelle, iterative Vorgehensweise im Gegensatz zum herkömmlichen Planungsdenken. Vorrang haben Intuition und praktisches Lernen, Bauch besiegt Kopf. So berichtet Christoph Neßhöver im Managermagazin vom Mai 2017, dass Manager bei Daimler mit Legosteinen mehr Intuition lernen sollen. Ähnliches tut sich auch bei Airbus, Postbank und der Deutschen Telekom.  „Lego statt Flipcharts, Murmeln statt Powerpoint: Das Spielerische schafft jene Freiräume, die das Unbewusste aktivieren und die Kreativität beleben.“ Allein mit Big Data lassen sich keine guten Entscheidungen treffen. Aber Planungsdenken ist damit nicht vom Tisch. Planung kann unter anderem zur Effizienzsteigerung und Risikoverminderung beitragen. Iterative Zyklen machen keinen Sinn, wenn Tests vorab nicht möglich und Fehler katastrophal sind. Und Intuition ist mehr als postfaktisches Bauchgefühl. Etablierte, große Organisationen üben sich daher im Spagat zwischen den Perspektiven. Siemens beispielsweise erweitert seine Stage-Gate-Projektplanung durch iterative Zyklen und bündelt seine Startup-Aktivitäten in einer Einheit next47, Spezialisten von Volkswagen arbeiten jenseits von Wolfsburg am Digital Lab Berlin an neuen Mobilitätsservices rund um das vernetzte Fahrzeug. Die Kunst der Strategiefindung besteht daher darin, die Kreativität der Intuition und die Klarheit der Analyse zu verbinden. Man muss wissen, wo man der Intuition trauen kann und wo nicht, und wie man die Vorteile des langsamen, überlegten Denkens nutzen kann. Ebenso ist nicht erwiesen, dass Selbstführung in evolutionären Organisationen wirksamer ist. Sie kann mehr Selbstbestimmung bedeuten, aber auch mehr Druck und weniger Effizienz.

Agilität versus Businessplan, selbstführende Teams versus Hierarchie: Die digitale Transformation setzt die Kompetenz gegensätzliche Perspektiven zu entdecken und zu bewältigen an die erste Stelle der Managementagenda. Navigieren bei strategischen Spannungen: Darauf zielt auch mein Lehrbuch „Unternehmensführung“, das gerade in der dritten Auflage erschienen ist. Zurücklehnen also? Dass Lehrbücher und Vorlesungen, wie es immer noch heißt, heute nicht mehr reichen, ist bekannt. Die Praxis sieht oft anders aus. Ein Bericht von Marcus Birkenkrahe, Julia Gunnoltz und Boris Goldshteyn über das HWR-Projekt „Studierende modellieren Startup-Prozesse“ wirkt wie ein Weckruf. „Die Anwendung der Theorie in der Praxis war besser als jede Fallstudie“, bewertet Lina, Studentin an der HWR, diese Initiative. Intuitive und aktionsorientierte Formen der Entscheidungsfindung können mit agilen Managementmethoden hervorragend in der Zusammenarbeit mit echten Startups gelernt werden. Vor diesem Hintergrund wirkt die herkömmliche Managementlehre als zu kopflastig. „Do schools kill creativity?“, ist der Titel eines TED-Videos, das 45 Millionen mal aufgerufen wurde. Sind Hochschulen und andere Organisationen damit auch gemeint? Angehende Mediziner haben Leichen, an denen sie sich praktisch erproben können, was hat die Managementlehre? Keine Frage, die Lehrbücher sind besser geworden, mehr Anwendungsorientierung und Perspektivwechsel, mehr Praxisbeispiele und Videounterstützung, mehr Gruppenarbeit, Gamification und Blended Learning, mehr Praxissemester und internationaler Austausch und nun die Zusammenarbeit bei echten Startup-Prozessen. Aber die Suche nach dem richtigen Mix von theoretischer Analyse, Kreativität und praktischem Lernen im digitalen Zeitalter hat gerade erst begonnen.

(Einige Passagen sind entnommen aus „Perspektivwechsel. Strategie im digitalen Zeitalter“. Erscheint in: Supervision, Zeitschrift für Beraterinnen und Berater 2017, Nr. 3)

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